Arcadiana

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Lehrprojekt: Nature Writing und Übersetzung

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Image by Sarah Brown on Unsplash

This post is also available in English, please click here to read the English version

Das Sommersemester 2020 war in mehrerlei Hinsicht ein ungewöhnliches. Der zwölfwöchige Bachelor-Kurs, den ich unterrichtete, war mein erster, noch dazu im Online-Format, und ich hatte vor, ihn direkt mit einem kreativen Lehrexperiment zu beginnen. Es ging um die Übersetzung von aktuellem britischen Nature Writing, insbesondere von Auszügen aus Mark Cockers A Claxton Diary: Further Field Notes from a Small Planet (2019). Bevor es an die tatsächlichen Übersetzungen ging, bekamen die Studierenden eine kreative Schreibaufgabe, bei der sie ihr eigenes Stück Nature Writing verfassen sollten. Ursprünglich hatte ich das als Gruppenunternehmung geplant, zu der wir während einer Sitzung alle gemeinsam nach draußen gehen würden. Doch da aufgrund des Lockdowns nur Online-Unterricht möglich war, beauftragte ich die Studierenden, die Aufgabe individuell in ihren jeweiligen Umgebungen auszuführen.

In diesem Artikel möchte ich die Ergebnisse dieser Aufgabe vorstellen. Zuerst werde ich die Aufgabenstellung erläutern und die Texte der Studierenden skizzieren. Dann werde ich die Ergebnisse einer Umfrage beleuchten, in der es um die Auswirkungen und den positiven Nutzen der Aufgabe ging. Schließlich werden einige Beispiele der studentischen Texte präsentiert.

Die Aufgabe

Die Aufgabenstellung lautete wie folgt: „Nehmen Sie sich mindestens eine halbe Stunde Zeit, die Sie mit der Natur verbringen. Das kann im Garten sein, in Wald, Feld oder Wiese, in der Stadt, gar auf dem Balkon oder am geöffneten Fenster. Schreiben Sie dann (oder währenddessen) über Ihre Eindrücke. Schreiben Sie mindestens eine Seite Fließtext (Gedichte sind ebenfalls möglich).“ Die Texte waren auf Deutsch zu verfassen, der Zielsprache der späteren Übersetzungen.

Die Studierenden verfassten eine Bandbreite ansprechender und reflektierter Texte. Die meisten schrieben Prosa, eine Studentin jedoch komponierte ein nahezu imagistisch anmutendes Gedicht über ihren Weg zur Arbeit. Die Hälfte der Studierenden berichtete über einen Spaziergang, wobei die Umgebungen von Feldwegen über Waldwege bis zu Flussufern changierten. Manche liefen abends, um die Farben des Sonnenuntergangs zu genießen. Andere wurden von ihrem Hund begleitet und waren an tägliche Spaziergänge gewöhnt. Eine Studentin ging im Regen hinaus, ihrem Lieblingswetter. Sie alle erzählten von beruhigenden und belebenden Erfahrungen, und von Details, die ihre Aufmerksamkeit gebannt hatten: ein Kaninchen, eine singende Lerche, süß duftende Holunderblüten, ein Feuersalamander. Nicht nur Spaziergänge boten Verbundenheit mit der Natur. Die beschriebenen Umgebungen changierten von Voralpen-Seen bis zu städtischen Balkonen und Fensteraussichten. Die Studierenden bewiesen ein Auge für Details, Farben und Formen, registrierten Geräusche und Gerüche. Unter ihren Texten waren sowohl atmosphärische und emotionale Stücke als auch philosophische Reflexionen über den Platz der Menschen in der Natur und die Verbundenheit aller Lebewesen. Es war ihnen Nature Writing in all seinen Facetten gelungen und sie zeigten so die vielfältigen Qualitäten dieser Art von Literatur.

Auswertung der Aufgabe

Da die Pandemie neue und unerwartete Herausforderungen ins Universitätsleben brachte, war mein Fachbereich an neuen (Online-)Lehrkonzepten interessiert, mit denen Dozierende auf diese reagiert hatten. Im Rahmen ihres ausgeprägten Engagements für qualitative Lehre stellte die Johannes Gutenberg-Universität Mainz Mittel für eine wissenschaftliche Hilfskraft zur Verfügung, die bei der Aufarbeitung der erprobten Konzepte half. Am Ende des Kurses erstellte sie eine anonyme Umfrage mit meinen Fragen, dann sammelte sie die Antworten und fasste sie zusammen (11 von 13 Studierenden hatten geantwortet). Mich interessierten besonders zwei Dinge:

1. Bezüglich meiner pädagogischen Ziele: Welchen Effekt hatte die kreative Schreibaufgabe auf die Übersetzungserfahrung?

2. Angesichts der jüngsten Umstände: Hatte die Aufgabe positive Auswirkungen auf die Studierenden während des Lockdowns?

Die Umfrage startete mit dieser zweiten Frage, welche nun bejaht werden kann. Nahezu alle Studierenden hatten die bewusste Beschäftigung mit der Natur als entspannend, meditativ, gar tröstend empfunden. Die meisten hatten sich entschieden, sich zunächst ganz in die Natur zu vertiefen und erst im Anschluss auf ihren Laptops zu schreiben; manche hatten sich Notizen auf Papier gemacht. Sie hatten die Aufgabe als willkommene Abwechslung empfunden, sowohl zu üblichen Uni-Aufgaben als auch zum Lockdown. Eine Studentin berichtete, sie sei motivierter gewesen, die Aufgabe früher als sonst zu erledigen. 

Das Online-Format des Kurses hatte nach Eindruck der Studierenden ihre positive Erfahrung des Kurses nicht spürbar beeinträchtigt. Obwohl manche einen Austausch ihrer Eindrücke in der Klasse begrüßt hätten (ein solcher fand nicht statt; ich gab lediglich individuelles Feedback), waren sich alle einig, dass sie das individuelle Erlebnis der ursprünglich geplanten Gruppenunternehmung vorzogen. Dadurch waren sie fähig, sich besser zu konzentrieren, und konnten Ort und Zeit des Exkurses frei wählen.

Die Aufgabe schien außerdem positiven Einfluss auf das Übersetzungserlebnis der Studierenden gehabt zu haben. Viele berichteten, sie hätten sich dadurch besser in die Nature-Writing-Texte hineinversetzen und sich mit dem Autor besser identifizieren können. Ihr Gespür für Details und Atmosphäre war geschärft worden. Gleichzeitig hatte sich ihr Gefühl für die eigene Sprache verbessert und sie so zu kreativen und freien Übersetzungen befähigt.

Es war mein Ziel gewesen, eine stimulierende Aufgabe zu stellen, und tatsächlich schien diese die Übersetzungskompetenz der Studierenden gefördert zu haben. Zusätzlich brachte sie ihnen Vergnügen, körperliche Aktivität und Entspannung. Die Einbindung ausgewählter kreativer Schreibaufgaben kann somit ein gewinnbringender Baustein beim Unterrichten von Literaturübersetzung sein.

Veröffentlichung der studentischen Texte

Die Nature-Writing-Aufgabe hatte die Studierenden aus dem Klassenraum hinausgeführt. Nun sollten auch ihre Texte den Weg in die Welt finden. Eine Studentin schlug vor, diese für eine breitere Leserschaft zu veröffentlichen, um trotz des Online-Semesters ein Gefühl des gemeinschaftlichen Universitätslebens zu vermitteln. Diese Idee wurde von allen Seiten begrüßt und entsprechend verfolgt. Drei der Texte wurden bereits auf dem Blog des studentischen 06|magazins unseres Fachbereichs veröffentlicht. Eine Online-Sonderausgabe mit allen Texten ist in Planung. Um auch hier einen Eindruck des studentischen Nature Writing zu vermitteln, werden im Folgenden einige Beispiel vorgestellt.

Nature Writing von Annika Fitsch

Ich sitze auf einem Steg, fühle das warme Holz der Planken unter meinen Beinen und die Sonne auf dem Gesicht. Ich höre die Wellen; sie gehen schneller als sonst, es ist ein recht windiger Tag. Dennoch rollen sie beständig und regelmäßig ans Ufer, was sehr beruhigend wirkt. Auf dem Wasser tummelt sich eine Gruppe Schwäne, im Blaugrau des Wassers wirken die weißen Tupfen beinahe wie Wolken am Himmel. Es sind viele Schwäne, die meisten von ihnen sind im Wasser, einige liegen an Land. Alle befinden sich in unterschiedlichen Positionen. Manche suchen tauchend nach etwas Essbarem, andere schwimmen erhobenen Hauptes umher, wieder andere scheinen ein Nickerchen zu machen. Die schlafenden Schwäne liegen auf den Steinen am Ufer einer kleinen Halbinsel, die vor einem Dorf ein Stück in den See hineinragt. Hinter ihnen sehe ich einen Teil des Hafens und dahinter erheben sich einige Häuser. Das Dorf wirkt ruhig, von hier aus sehe ich keine Spaziergänger, die an der Promenade entlanglaufen, nur die großen alten Bäume sind zu erkennen. Sie stehen in vollem Grün, jeder in einer leicht anderen Schattierung, alle haben eine etwas andere Form und Größe, flach und grasgrün, hoch, spitz und dunkelgrün, beinahe quadratisch und hellgrün.

Ich höre das Kreischen einer Möwe und das Zwitschern einiger Vögel, das jedoch beinahe von den an Land rollenden Wellen übertönt wird. Ich lasse meinen Blick weiter nach links schweifen, weg von den Schwänen und dem Dorf und über den See. Über bewaldete Hänge und eine weit entfernte, kaum erkennbare Ortschaft hinweg, meine ich, das Ende des Sees erahnen zu können. Am Ende des Sees, hinter weiteren mit Wald bedeckten Hügeln, sehe ich schemenhaft die Umrisse der Alpen. Graue, hohe Berge, auf deren Spitzen noch Schnee liegt. Den Schnee erkenne ich so gut, dass die Berge gar nicht so weit weg erscheinen.

Mein Blick schweift weiter über kleine Ortschaften, Waldgebiete und aus Sandstein bestehende Hänge. Mit den Augen folge ich einer Straße, die direkt am See entlangführt, zu einem nahe gelegenen Ort, von dem ich einige Häuser, die Kirchturmspitze und den Hafen erkennen kann. Schließlich gleitet mein Blick über ein kleines Wäldchen zurück zu dem Steg, auf dem ich sitze. Ich schaue noch einmal hinaus auf das Wasser, betrachte den Farbverlauf des Wassers, von dem Braunblau des seichten Wassers am Ufer über ein dunkles Grünblau bis hin zu einem Graublau an den tiefsten Stellen des Sees. In dem grünblauen Wasser sehe ich einen weißen Tupfen, einer der Schwäne hat sich von seiner Gruppe entfernt und schwimmt nun einige Meter vor mir auf dem See. Hinter ihm, etwas weiter draußen, sehe ich einen Mann, der in einem kleinen Schlauchboot sitzt und angelt. Das schwarze Boot wird von den Wellen sanft hin und her geschüttelt.

Die Sonne scheint auf die unruhige, durch Wellen unterbrochene Wasseroberfläche und lässt das Wasser etwas heller erscheinen. Ich kann jedoch nicht bis auf den Grund sehen. Durch den Wind und die Wellen wird der Sand aufgewirbelt und färbt das Wasser bräunlich. Der Schwan steckt seinen Kopf unter einen seiner Flügel und beginnt, sein Gefieder zu putzen. Auch sein Gefieder ist etwas bräunlich, er scheint noch recht jung zu sein. In einiger Entfernung fliegen drei schnatternde Gänse über die Bäume auf meiner rechten Seite hinweg und landen mit einem lauten Platschen auf dem Wasser. Durch ihre Landung entstehen Kreise im Wasser, die jedoch schnell von den Wellen verschluckt werden. Ganz leise höre ich den Wind durch die Blätter streichen und das Rascheln des Schilfgrases, das sich sanft im Wind wiegt. Doch das lautere Geräusch der Wellen lenkt meine Aufmerksamkeit wieder auf das Wasser. Während ich mich umschaute, verkam das beständige Rollen der Wellen zu einem Hintergrundgeräusch, doch nun drängt sich der Klang des Wellenschlags wieder in den Vordergrund.

Ich nehme diese rauschende, plätschernde Gleichmäßigkeit in mich auf, atme ein letztes Mal die frische klare Luft, in der ein Hauch von Seetang liegt, und stehe auf.

“Der Regenspaziergang” von Juliane Lein

Es ist ein grauer Tag. Ich lege die gut zweihundert Meter von der Haustür bis zum Feldweg rasch zurück. Es tut gut, draußen zu sein und die Häuser Germersheims in einiger Entfernung hinter sich zu lassen. Am anderen Ende des Feldes kann ich die Schnellstraße und dahinter die Gebäudekomplexe der Südpfalz-Kaserne sehen. Gras sprießt am Feldrand und auch die Bäume grünen. Die obersten Triebe lassen bereits die Blätter hängen, so lange hat es schon nicht mehr geregnet. Auch die Felder sehen völlig ausgetrocknet aus. Ich bleibe einen Moment stehen und richte meinen Blick gen Himmel. Grau und schwer ragen die Wolkenberge über mir auf. Von mir aus könnte es einen kräftigen Regenguss geben. Seit Tagen, wenn nicht gar Wochen, gab es nichts außer grauem Himmel. Keinen einzigen Regentropfen. Ich gehe weiter und bemerke nach einigen Schritten, wie der erste Regentropfen einen großen feuchten Fleck auf dem staubigen Boden hinterlässt. Endlich!

Weitere Tropfen folgen und hinterlassen ein unregelmäßiges Fleckenmuster. Ich richte meinen Blick erneut hinauf zu der dichten Wolkendecke, die schon den ganzen Morgen über der Stadt hängt. Kühle Wassertropfen fallen mir auf die Stirn und die Wangen und ein Lächeln breitet sich auf meinem Gesicht aus. Regen ist das schönste Wetter. Zumindest für mich. Die kühle, frische Luft eines Frühlingsregens, die tropisch-stickige Hitze eines Sommergewitters, das Rascheln der trockenen Blätter im Herbst, während die Regentropfen darauf niederprasseln, und der kalte Schneeregen im Winter, der wie kleine Nadeln im Gesicht sticht. Ich schaue mich um und sehe die Grashalme am Feldrand rhythmisch im Takt der Tropfen wippen. Sie fallen nun in immer kürzeren Abständen und größerer Zahl. Ich setze die Kapuze meiner Jacke auf und setze meinen Weg fort. Das Prasseln des Regens wird dumpfer.

Die Wege sind bereits völlig durchnässt, genauso wie meine Jacke. An der Weggabelung biege ich nach links ab, um einen größeren Abstand zu den Häusern der Stadt zu gewinnen. Die Luft ist kühl und nicht mehr so stickig wie die letzten Tage und ich stelle mich für einen Moment unter eine Buche, um die frische Luft einzuatmen und dem Prasseln des Regens zuzusehen. In den tiefen Furchen der Felder bilden sich bereits matschbraune Pfützen, da das Wasser nicht schnell genug von dem ausgetrockneten Boden aufgesogen werden kann. Nach ein paar Minuten gehe ich weiter, den Weg entlang, an der Schnellstraße vorbei und hinüber zum Flusslauf der Queich, die auch durch Germersheim fließt, bevor sie in den Rhein mündet. Kleine, ineinanderfließende Kreise zeichnen sich durch die herabfallenden Regentropfen auf der Wasseroberfläche ab. Im Vorübergehen betrachte ich den Tanz der Tropfen, es hat beinahe etwas Meditatives allein durch den Regen zu spazieren. Ich genieße die letzten Sekunden Abgeschiedenheit, bevor ich in die Wohnsiedlung am Rande der Felder einbiege. Bis zu meiner Wohnung sind es noch ein paar Minuten.

Im Hausflur ziehe ich meine nassen Schuhe aus, um sie zum Trocknen stehen zu lassen. Meine Jacke hänge ich an der nächstgelegenen Tür auf. Einige Tropfen perlen von ihr ab und hinterlassen kleine, feuchte Flecken auf dem Boden. Ein Stück des Regens habe ich also mitgebracht. Ich betrachte die Fensterscheibe, während ich mir Wasser im Wasserkocher erhitze. Die Tropfen rinnen an ihr hinab. Es scheint so, als würden sie ein Wettrennen machen. Der Wasserkocher schaltet sich automatisch ab und auch an seiner Innenseite rinnen die Tropfen hinab wie an der Scheibe. Ich bereite mir einen Tee zu und setze mich noch eine Weile ans Fenster, um den schönen Regenspaziergang in aller Ruhe ausklingen zu lassen.

Juliane Lein ist Bachelor-Studentin im 4. Fachsemester am FTSK Germersheim. Sie studiert Englisch, Französisch und Arabisch mit den Schwerpunkten Internettechnologie und Medienübersetzen.


Autor/in: Melina Lieb ist Doktorandin und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich für Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz/Germersheim. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf britischem Nature Writing des 21. Jahrhunderts, Ecocriticism und Ecopoetry. Neben ihrer Doktorarbeit verfasst sie auf Deutsch und Englisch eigene Gedichte und Prosatexte, die von ihrer lebendigen Umwelt inspiriert sind.

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